Egal ob für Züchtungszwecke, ob als letzte Hilfe für Apfelallergiker oder für besondere Nutzungszwecke bei der Speisen- und Getränkeherstellung, ob für den Erhalt großer Geschmackqualität und -vielfalt oder für den Obstanbau jenseits der großen Obstplantagen: wir brauchen die alten Obstsorten dringender denn je.

Alte Obstsorten: für Züchtungszwecke unverzichtbar

Alte Obstsorten stellen ein genetisches Potential dar, das über Jahrhunderte hinweg von unseren Vorfahren entwickelt und selektiert wurde. Eigenschaften, die uns heute wertlos erscheinen mögen, können in Zukunft bei geänderten Sortenanforderungen plötzlich wieder an Bedeutung gewinnen.

Die heutigen Kultursorten im Intensivobstbau gehen im Wesentlichen immer wieder auf dieselben „Eltern“ zurück. Sie sind zwar optimal an die Sortenanforderungen der großen Obstplantagen angepasst, aber genetisch verarmt. Das Einkreuzen zusätzlicher Eigenschaften aus Wildobstarten ist aus der Sicht der Obstzüchtung ein sehr langer Weg. Viele Züchtungsschritte sind erforderlich, um wieder zu einem Produkt zu kommen, das unseren Vorstellungen entspricht. Alte Obstsorten tragen dagegen unter Umständen bereits die gewünschten Zuchtziele in sich und führen schneller zum Züchtungserfolg, da sie in ihren Eigenschaften näher an den heutigen Kultursorten angesiedelt sind als Wildobstsorten.

Der Erhalt der genetischen Ressourcen von Obstsorten der Vergangenheit ist deshalb die Grundlage für die Obstsortenzüchtung der Zukunft. So kann z.B. angesichts der prognostizierten sehr trockenen Sommer in vielen Teilen Deutschlands möglicherweise der gesamte Erwerbsobstbau Schaden nehmen, wenn ihm keine Sorten zur Verfügung stehen, die eine genügende Trockenresistenz besitzen.

In diesem Zusammenhang können die alten Obstsorten sehr hilfreich sein, denn sie haben die kleine Eiszeit vom 15. bis ins 19. Jahrhundert getrotzt. Sie tragen damit nach Aussagen des Obstsortenzüchters und Pomologen Hilmar Schwärzel (Müncheberg) Antworten auf den heutigen Klimawandel in sich, „denn es gibt diese Kreuzresistenz zwischen Winterfrosthärte und Dürreresistenz“. [1]

Viele der heute in Baumschulen gehandelten Standard-Tafelbirnensorten sind der Klimaveränderung mit den trockenen und heißen Sommern nicht mehr gewachsen. Andere, bisher wenig verbreitete alte Sorten können hingegen dem Druck von Schorfpilzen, Fruchtmonilia, Birnengitterrost, Sonnenbrand, etc. bisher standhalten. Hierzu gehören z.B. nach Angaben des Pomologen Jan Bade die Birnensorten Herrenhäuser Winterchristbirne, Herzogin Elsa, Hochfeine Butterbirne, Prinzessin Marianne, Rotgraue Dechantsbirne, Stermann Butterbirne und etliche andere. [2]

Der Erhalt alter Obstsorten dient daher dazu, die erforderliche Genreserve für bestimmte Züchtungen zu sichern.

Alte Obstsorten: breites Spektrum der Wuchsformen und Blütezeiten

Die alten Obstsorten weisen ein breites Spektrum der Wuchsformen und Blütezeiten auf. So gibt es z.B. Birnensorten wie die „Normännische Cidebirne“ (kommt auch mit schlechten Böden zurecht) oder „Findling von Hohensaaten“, die sehr schlanke Wuchsformen haben und daher bestens als Straßenbäume geeignet sind.

Aufgrund des Klimawandels kommt es zu einem immer früher im Jahr einsetzenden Austrieb der Obstbäume. Allerdings klagen auch immer mehr Obstbaumbesitzer über Spätfröste. In diesem Zusammenhang können eine Vielzahl von alten Obstsorten weiterhelfen, die einen späten Blühtermin haben (z.B. die Apfelsorte „Spätblüher von Bockedra“).

Alte Obstsorten: verschiedene Sorten für verschiedene Nutzungszwecke

Es ist ein Irrglaube zu meinen, bei jeder alten Obstsorte würde es sich um Tafelobst handeln. Vielmehr sind viele alte Obstsorten als Tafelobst völlig ungeeignet und wurden doch über Jahrhunderte erhalten, weil sie für andere Nutzungszwecke eine große Bedeutung haben.

So gibt es alte Obstsorten, die sich vor allem zur Herstellung von Saft eignen, andere die sich zum Herstellen von Obstwein und wieder andere, die sich zum Dörren eignen. Auch gibt es Obstsorten, die zum Backen optimal sind und andere, die zur Herstellung von Mus oder Kompott geeignet sind. Weitere Sorten haben den Vorteil, dass sie beim Kochen nicht zerfallen (z.B. die Birnensorten Großer Katzenkopf, Kuhfuß, Pastorenbirne). Und es gibt Sorten, die zur Herstellung von Pfannkuchen besonders geeignet sind (z.B. Altländer Pfannkuchenapfel, Horneburger Pfannkuchenapfel). Schließlich sind alte Obstsorten vorhanden, die zur Herstellung von Likören und wieder andere, die für Destillate besonders gut geeignet sind (z.B. Wahlsche Schnapsbirne, Alexander Lucas, Köstliche aus Charneux, Williams Christ). [3]

Alte Obstsorten: große Geschmacksqualität und -vielfalt

Die heute noch vorhandenen alten Obstsorten, die als Tafelobst geeignet sind, bieten im Gegensatz zu den Supermarktsorten eine sehr große Geschmacksvielfalt. Von fein säuerlich bis herrlich süß, von würzig aromatisch bis wunderbar fruchtig und saftig reicht die Geschmackspalette. Namen wie „Ananasrenette“, „Champagnerrenette“, „Himbeerapfel von Holovous“, „Winterbananenapfel“ oder „Köstliche aus Charneux“ weisen darauf hin, dass geschmacklich bei den alten Sorten viel zu entdecken ist. Die im Supermarkt angebotenen Obstsorten können da nicht ansatzweise mithalten. So wurde bei den Obstsortenzüchtungen der vergangenen Jahrzehnte fast ausschließlich Wert daraufgelegt, Sorten für den Erwerbsobstbau und den großflächigen Anbau auf Plantagen zu züchten. Dabei ging es vor allem darum, Resistenzen gegen Pflanzenkrankheiten zu erzielen, das Aussehen der Obstsorten zu verbessern, deren Größe zu normieren und deren Transportfähigkeit zu verbessern. All´ dies ging jedoch fast immer zu Lasten des Geschmacks. Weil süße Obstsorten von den Verbrauchern bevorzugt werden, schmeckt das Obst aus den Supermärkten zudem immer weniger abwechslungsreich.

Hinzu kommt, dass in den Supermärkten fast ausschließlich Obstsorten angeboten werden, die sich in Kühllagern bei 0,5 ° Celsius oder CA-Lagern [4] über Monate lagern lassen. Zu diesen Sorten gehören z.B. „Conference“ und „Williams Christ“, Sorten, die sich unter normalen Bedingungen nur wenige Wochen halten. Um sie noch längere Zeit haltbar zu machen, werden die Birnen dieser Sorten viel zu früh gepflückt. Sie erreichen später nie mehr die Güte, die wir von am Baum ausgereiften Früchten kennen, auch wenn die Werbung das Gegenteil zu vermitteln sucht.

Alte Obstsorten: für den Einsatz jenseits der großen Obstplantagen [5]

Die Obstsortenentwicklung in den letzten Jahrzehnten war fast vollständig auf den Bedarf und die Bedürfnisse des Niederstamm-Intensivanbaus auf großen Obstplantagen ausgerichtet. Die Interessen und Bedürfnisse von Gartenbesitzern, Selbstversorgern und Kleingärtnern bzw. denjenigen, die auf Pflanzenschutzmittel weitgehend verzichten möchten, sind bei dieser Entwicklung ebenso unter den Tisch gefallen wie spezielle Anforderungen an Sorten z.B. für Dörrobst oder Kompott. Verloren gingen und gehen durch diese Entwicklung zudem:

  • robuste Sorten für Selbstversorger, die auch ohne den Einsatz von chemischen Pflanzenschutzmitteln noch ansehnliche Früchte und passable Ernten liefern;
  • Langlagersorten, die sich auch im Normallager – ohne professionelle Kühllagerung oder CA-Lagerung – bis ins Frühjahr hinein lagern lassen;
  • starkwüchsige Sorten, die auf Hochstamm auch noch bei ungünstigen Bodenverhältnissen bzw. bei fehlender Bodenbearbeitung gedeihen;
  • Sorten, die auch in Höhenlagen, regenreichen oder sehr trockenen Regionen oder anderen klimatisch weniger begünstigten Regionen noch gedeihen;
  • Saftreiche und säurereiche Sorten für die Süßmostherstellung (die Fruchtsaftindustrie setzt ihren Apfelsäften häufig Ascorbinsäure zu, da die aus den Erwerbsobstplantagen zugekauften Äpfel zu wenig Säure enthalten);
  • säurereiche und/oder nicht verbräunende Wirtschaftssorten für Verarbeitungszwecke (Kuchen, Mus, Dörrobst);
  • Sorten für qualitativ hochwertige Obstdestillate.

Dagegen wurden und werden auf den Obstplantagen fast ausschließlich Apfelsorten wie Golden Delicious, Elstar, Gala, Gloster, Jonagold oder Rubinette angebaut, die bei einem Verzicht auf Pflanzenschutzmaßnahmen im Anbau völlig versagen. Nur durch den jährlich bis zu 25maligen Einsatz von chemischen Pflanzenschutzmitteln sind diese Sorten ertragreich. Für den Anbau im Kleingarten oder für Selbstversorger sind diese Sorten dagegen völlig ungeeignet.

Künftig wird aufgrund des weltweiten Bevölkerungswachstums und ökologischer Herausforderungen die Selbstversorgung von Familien, Dörfern und Städten mit Obst und Gemüse deutlich zunehmen. Immer stärkere Bedeutung für den Obstbau bekommt zudem die Nutzung von klimatisch weniger begünstigten Regionen und/oder schwierigen Bodenverhältnissen. Der Transport von Plantagenobst nach Deutschland (z.B. aus Neuseeland und Argentinien) über mehrere tausend Kilometer wird aus Klimaschutzgründen bald nicht mehr akzeptiert werden. Aus den genannten Gründen wird man ohne den Einsatz alter Obstsorten die künftigen Herausforderungen kaum meistern können.

Alte Apfelsorten: Hilfe für Allergiker

Allein in Deutschland gibt es über eine Million Apfelallergiker, die beim Essen von Äpfeln unangenehme Beschwerden im Mund verspüren. Dies sind z.B. Juckreiz und Schwellungen im Mund, Lippenschwellungen, Einengungen des Rachens und auch Beschwerden an der Haut oder in den Bronchien. [6]

Viele Menschen reagieren insbesondere auf die Sorten allergisch, die es im Supermarkt zu kaufen sind, wie z.B. Gala, Jonagold, Granny Smith, Golden Delicious, Braueburn etc. Zwar gibt es auch neuere Apfelsorten wie Santana, Rubinette und Pinova, die die meisten Apfelallergiker gut vertragen. Es sind aber insgesamt eher die alten Apfelsorten, die für viele Allergiker geeignet sind. Dazu gehören z.B. Biesterfelder Renette, Jakob Lebel, Kanadarenette oder Berlepsch. In mehreren Studien wurde sogar ermittelt, dass der regelmäßige Verzehr einiger alter Apfelsorten mit wenig Apfelallergenen zu einer Toleranzentwicklung auch gegenüber allergenreichen Äpfeln führte. Apfelallergiker konnten danach verschiedene Äpfel beschwerdefrei essen. [7]

Alte Obstsorten: Teil unserer Kultur

Die Geschichte der alten Obstsorten ist Teil einer gemeinsamen Geschichte der Menschen mit diesen Sorten. „Große Prinzessin“, „Gestreifter Kardinal“ und „Schöne von Löwen“ sind allesamt Sorten, die von Menschen gezüchtet bzw. selektiert wurden. Typische Gerichte, alte Bräuche und Feste, Traditionen und lokales Wissen gehen verloren, wenn die alten Obstsorten verschwinden. So gibt es z.B. in Großradisch (Ostsachsen) seit dem Jahr 1861 ein „Kirschenfest“, das mit Kirschblütenwanderung und Kirschwein gefeiert wird. Und in Königschaffhausen gibt es ebenfalls ein Kirschfest mit Wahl zur Kaiserstühler Kirschenkönigin. In Altendiez (Rhein-Lahn-Kreis) trifft man sich, um aus einer bestimmten Birnensorte gemeinsam „Bimbes“ herzustellen, einen eingedicktem Birnensaft, der anschließend als Brotaufstrich verwendet wird. Die Liste der Beispiele ließe sich leicht verlängern.

 

Fazit:

Der Erhalt alter Obstsorten ist aus mehreren Gründen unverzichtbar: als Genreserve fürdie Züchtung von Obstsorten, für die Sicherstellung eines breiten Spektrums der Wuchsformen und Blütezeiten, für besondere Nutzungszwecke bei der Speisen- und Getränkeherstellung, für den Erhalt großer Geschmackqualität und -vielfalt, für den Obstanbau jenseits der großen Obstplantagen sowie aus gesundheitlichen und kulturellen Gründen.

 

[1] Vgl. https://www.deutschlandfunkkultur.de/obstforschung-apfel-guru-huetet-1000-alte-sorten.2165.de.html?dram:article_id=368965
[2] Vgl. Jan Bade, Vortragsmanuskript zum Birnenseminar 2018 in Bad Muskau, S. 18.
[3] Vgl. Hartmann, Walter/Schwarz, Philipp, Die 100 besten Obstsorten für die Brennerei, Stuttgart 2018
[4] In CA-Lagern werden Temperatur, Luftfeuchtigkeit, Sauerstoff- und Kohlenstoffdioxidgehalt mittels Mess- und Regeltechnik überwacht und auf den gewünschten Niveaus gehalten. Dank CA-Lagerung sind gewisse Obst- und Gemüsesorten unabhängig von der Erntezeit das ganze Jahr über verfügbar.
[5] Vgl. zum Folgenden: Bannier, Hans-Joachim, Genetische Verarmung beim Obst und Initiativen zur Erhaltung der genetischen Vielfalt, in: Samensurium, 17/2005, S. 61-68.
[6] Insbesondere der BUND Lemgo hat sich dieses Themas angenommen und umfangreiche Informationen zusammengetragen (siehe https://www.bund-lemgo.de/download/00_Apfelallergie_2019_01.pdf).
[7] vgl. https://www.bund-lemgo.de/apfelallergie.html